Dekolonisierung. Nachhaltigkeit. Diversität. Bericht von der Veranstaltung im LOCH am 18. November 2022 Vielfalt der Stimmen: Eine der Teilnehmenden der und.jetzt!-Veranstaltung am 18.11., Stephanie Wolter, hat von sich aus Eindrücke, Themen und Thesen aus ihrer Perspektive zusammengefasst. Sie wurden bereits im Blog solital.de veröffentlicht. Das greifen wir gerne auf. Mehr noch: Darüber freuen wir uns und bauen darauf auf, in dem wir ihre Betrachtungen mit ein paar Links und Anmerkungen ergänzen, die teils über die Veranstaltung hinausweisen. „und.jetzt!“ ist ein Vorhaben, das als Reaktion auf die Erklärung des Klimanotstands im Wuppertaler Stadtrat eine künstlerische Auseinandersetzung mit ökologischen und sozialen Themen anregen möchte. Begleitend dazu wurde an vier örtliche Künstler*innen bzw. Gruppen ein Stipendium zur Finanzierung ihrer Arbeit vergeben. Flankiert wird das Projekt von vier Rahmenveranstaltungen an alternativen Kultur-Orten in der Stadt. Für den 18. November 2022 hatte und.jetzt! ins „Loch“ eingeladen, moderiert haben den gemeinsamen Nachmittag Meieli Borowsky-Islam (Decolonize Wuppertal) und Sina Dotzert (und.jetzt!) und vorbereitet im Kernteam mit Uta Atzpodien und Michael Felstau. Im Mittelpunkt stehen diese Fragen: „Welche Ideen offenbaren sich, wenn wir Dekolonialisierung, Klima und Kunst zusammen denken? Wie können Kunst und Kultur helfen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine globale Solidarität zu entwickeln?“ „ …wenn wir die einzige Geschichte ablehnen, wenn wir realisieren, dass es niemals nur eine einzige Geschichte gibt, über keinen Ort, dann erobern wir ein Stück vom Paradies zurück.“ Chimananda Nkozi Adichie Unter diesem Motto standen am 18. November im Loch persönliche Geschichten von Menschen of colour im Mittelpunkt, entgegen dem Bild der einen Geschichte, die von den Mächtigen bestimmt wird. Sie erzählen bewegend davon, wie sie die Nachwirkungen der Kolonialgeschichte, also Rassismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in ihrem Alltag erleben. Ihre Kinder bekommen in der Schule nicht die gleichen Chancen wie weiße Kinder. Dies belegt die sogenannte Mehmed-und-Max-Studie: Ein Schüler namens Mehmed wird allein aufgrund seines arabischen Namens schlechter benotet als sein Mitschüler Max, bei exakt der gleichen Leistung. Eine lebhafte Diskussion wurde an diesem Tag durch die Erfahrung angeregt, dass schwarze Menschen oder Frauen mit Kopftuch unwillkürlich gesellschaftlich geringer bewerteten Berufen zugeordnet werden. Zum Beispiel sieht man sie als Reinigungskraft. Die Homepage einer Beratungsstelle für migrantische Gründer*innen zeigt – was wohl sonst – einen Gemüseladen! Der unbewusste, rassistische Subtext dahinter lautet seit den Zeiten der Sklaverei, dass schwarze Menschen bzw. Migrant*innen in dienenden Positionen zu verbleiben hätten und eine höhere Bildung und beruflicher Erfolg ihnen nicht zustehe. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass weiße Menschen sich dieser unwürdigen Mechanismen bewusst werden, damit es gelingt sie gemeinsam zu überwinden. Dem entgegen stehen die geschilderten Erfahrungen von Empowerment. In London erscheint es selbstverständlich, dass Menschen of colour alles sein können: Man trifft sie als Zollbeamte*r oder Pilot*in auf dem Flughafen, als Bankangestellte, als Lehrer*innen und Professor*innen, als Verkäufer*innen in Modegeschäften und vieles mehr. Von dieser gelebten Chancengleichheit ist die Gesellschaft in Deutschland vielerorts noch weit entfernt. Zudem berichten die Menschen, wie sie mutig für ihre eigenen Rechte einstehen in Situationen, in denen sie mit offenem oder unterschwelligem Rassismus konfrontiert sind. Wie es eine Frau ausdrückt, stehen sie dabei „als eine mit Zehntausenden“, denen die Möglichkeit zu widersprechen nicht gegeben ist. Wie sie gegen alle Widerstände ihren Weg gemacht haben, erfolgreich in Schule, Studium und Beruf sind, verlangt größten Respekt. Es wird deutlich, wie sehr sie die Wuppertaler Stadtgesellschaft bereichern mit ihrer Musik, ihrer Kochkunst, ihrem politischen Engagement. Abseits von diesen persönlichen Berichten wurde diskutiert, wie der Kolonialismus bis in die heutige Zeit nachwirkt. Erwähnt wurden geraubte Kunstgegenstände von kolonisierten Völkern, die bis heute in westlichen Museen oder in Privathand sind. So auch in Wuppertal, im ehemaligen Völkerkundemuseum (umbenannt in „Museum auf der Hardt“). Dort sind unter anderem Skulpturen eines indigenen Volkes zu sehen, das auf einer indonesischen Insel lebt. Bis heute wird behauptet, die Objekte seien den Missionaren auf freiwilliger Basis geschenkt worden und bräuchten deshalb nicht zurückgegeben zu werden. Ein wichtiger Aspekt sind die Umweltzerstörung und der Klimawandel, von denen die Länder des Globalen Südens besonders betroffen sind, während die historische Verantwortung für die Schäden bei den Industriestaaten liegt. Bis heute geraten diese Länder durch ein extraktivistisches Wirtschaftsmodell, also den Export von mineralischen und agrarischen Rohstoffen mit schweren ökologischen Folgen bei minimaler Wertschöpfung, in einen Teufelskreis aus Abhängigkeit und Verschuldung. Weiterhin profitiert der globale Norden einseitig von der Ausbeutung der Natur und der menschlichen Arbeitskraft. Der Klimawandel zeigt sich besonders im globalen Süden durch Dürren und Hungersnöte, katastrophale Stürme und Überflutungen. Die Menschen können sich davor nicht schützen und den Staaten fehlen die Ressourcen für Nothilfe und Wiederaufbau. Sie verlieren alles. Der kapitalistischen Wirtschaftsweise steht das Modell des Buen Vivir (PDF – 1.840 KB) entgegen, nach dem sich Indigene, Kleinbäuer*innen und lokale Gemeinschaften jenseits des Welthandels und nach basisdemokratischen Prinzipien mit dem versorgen, was sie für ein gutes Leben brauchen – innerhalb der ökologischen Grenzen ihres Landes und ohne dass Überfluss und Ungleichheit entsteht. Offen bleibt die Frage, wie ein solches Prinzip in der globalisierten Welt mit ihren hochkomplexen Handelsbeziehungen umgesetzt werden kann. Begleitet werden diese intensiven Erzählungen und Debatten von einer Mahlzeit, die gemeinsam zubereitet wird. Alle Anwesenden schnippeln das Gemüse, aus dem die Köchin Mariame Camara auf der Bühne kunstvoll eine vegane Gemüsesuppe und vegetarische Teigtaschen zubereitet. Die Gerüche und die körperliche Tätigkeit verleihen der Veranstaltung eine ganz besondere Atmosphäre. Zum Abschluss wird die Suppe bei regen Gesprächen genüsslich ausgelöffelt. Anhang: Aufarbeitung der Wuppertaler Kolonialgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Kulturgegenständen der indonesischen Insel Nias Island Diese Gegenstände befinden sich aktuell im Besitz des sogenannten „Völkerkundemuseums der Archiv- und Museumsstiftung Wuppertal“, offiziell: „Museum auf der Hardt“ Link Museum auf der Hardt Auf der Website „museen.de“ finden wir zum „Museum auf der Hardt“ die Information, dass Missionare der „Rheinischen Mission“ (RM) und der „Bethelmission“ seit 1828 u.a. in Indonesien aktiv waren und „vielfältiges Material in das Missionshaus in Deutschland“ schickten, so “detaillierte Berichte über Länder und Leute, Dokumente der entstehenden einheimischen Gemeinden, Handzeichnungen, Fotos und Gegenstände aus der Kultur der überseeischen Partner.“ Siehe Völkerkundemuseum Wuppertal Als repräsentativste Gegenstände werden hierfür genannt: „Interessant sind beispielsweise die beiden Megalith-Figuren von der indonesischen Insel Nias. Beide Figuren sind über einen Meter hoch und bedeutende Beispiele für die Ehrung der Ahnen auf der kleinen Insel im Indischen Ozean.“ (Anm.: Es handelt sich um originale Skulpturen von Nias Island. Es ist noch genau zu recherchieren, unter welchen Umständen sie in die Sammlung der RM gerieten.) Die Geschichte der „Rheinischen Missionsgesellschaft“ (RM) ist umfangreich dokumentiert, findet sich grob zusammengefasst auf Wikipedia Wie die RM in „Niederländisch-Indien“ (heute Indonesien), das ab 1824 von den Holländern verwaltet und ab 1890 als niederländische Kolonie organisiert wurde, missionarisch aktiv war, lässt sich dagegen nur der Fachliteratur entnehmen. Hilfreich ist u.a. die Arbeit (Promotion) von Uwe Hummel und Tuhoni Telaumbanua: Cross and Adu, Utrecht 2007 Zusammenfassung der bisherigen Recherche: Nias Island war vor 1824 in der Hand der Engländer, die dort Versklavung, Sklavenhandel und Sklavenarbeit organisierten. 1820 verboten sie den Sklavenhandel, überließen die Insel jedoch den Holländern. Sklavenhändler (indonesische Acehnese, mehrheitlich muslimisch) kehrten anschließend zurück und provozierten gewaltsame Aufstände. Die holländischen Administratoren griffen verspätet militärisch ein, setzen das Verbot der Sklaverei aber erst um 1840 auf Nias Island mit Mühen wieder durch. Auch anschließend kam es immer wieder zu Aufständen und schließlich zum offenen Bürgerkrieg gegen die Holländer 1855. Ab 1856 begannen diese mit dem Aufbau des Forts von Lagundri, brannten viele traditionelle Häuser und Dörfer nieder, gründeten eine Militärzone um die größte Stadt Gunungsitoli und zogen sich aus dem offenen Land weitgehend zurück. Innerhalb des militärischen Sperrgebiets um Gunungsitoli arbeiteten ab 1865 die ersten Missionare. Gottesdienste außerhalb dieses Gebiets waren jahrelang nicht möglich, wie der Missionsinspektor der RM, August Schreiber (1839-1903), am Ende des Jahrhunderts zugab. Die RM forderte schließlich die niederländische Verwaltung auf, die Exekutive auf die ganze Insel auszuweiten. Die Holländer folgten diesem Appell, womit die holländische Invasion in die Dörfer ab 1901 begann und zugleich die Expansion der Missionierung außerhalb von Gunungsitoli. Ohne militärischen Schutz keine Mission. Damit verbunden begann die eigentliche Kolonisierung von Nias, der Aufbau von Infrastruktur (Straßenverbindungen etc.) und die Zerstörung der lokalen Machtzentren der indigenen Stämme. Die Missionare gründeten Schulen und Krankenstationen, Monokulturen wurden eingeführt, die Kokosnuss wurde primäres Anbauprodukt und bildete neben Reis das Hauptexportprodukt in die Niederlande. Dafür wurde ein umfangreiches Zwangsarbeitssystem (“Forced Labour“) etabliert, u.a. gegen das die Bevölkerung bis 1914 revoltierte. Dabei ging es den Holländern genauso wie den Missionaren darum, die indigenen religiösen Riten und Rituale zu zerschlagen. „Ono Niha“ (System religiöser und landesprachlicher Gemeinschaften) und „adu“ sind Kernbegriffe für den traditionellen Ahnenkult auf Nias Island, der die Dorfgemeinschaften kulturell zusammenhielt (orale Sprachkultur!), in Normen und Sitten verband. Oft genug schlichteten die „Stämme“ untereinander Streit im Rahmen des „Ono Niha“. Die Aktivitäten der RM richteten sich hauptsächlich gegen „Ono Niha“, das indigene kulturelle System sowie der Name , den sich die Einwohner Nias selbst gaben. Missionare wurden speziell an der RM in Barmen ausgebildet. Direktor der RM war ab 1857 Friedrich Fabri (1824-1891), ein namhafter deutschen Kolonialist. (Es lohnt sich schon allein, dessen Wirken innerhalb der RM im Rahmen der dekolonialen Kritik genauer aufzuarbeiten). 1865 begann die Christianisierung durch Missionare auf Nias Island mit der Ankunft des RM-Missionars Ernst Ludwig Denninger (1815-1875). Ab diesem Zeitpunkt lässt sich genau nachvollziehen, welche Missionare und Missionarsfamilien der RM sich dort ansiedelten, wann Kirchen und Schulen gebaut wurden und das Christentum sowie die westliche Rechtsordnung Einzug hielt. 1914 waren 13 Missionsstationen auf Nias Island in Betrieb. Der Erfolg der kolonialen Anstrengungen zeichnete sich schließlich mit dem „Great Awekening“ 1915 ab (1915 bis 1930, die Insel gilt ab 1930 als christianisiert). In dieser Zeit ging es darum, alle alten Rituale und Kulte zu vernichten. Ebenso werden in dieser Zeit religiöse Kultgegenstände vernichtet, verschenkt, exportiert oder verkauft worden sein. Es ist nachweisbar, dass insbesondere Megalith-Figuren dazugehörten. (Siehe: Hummel, Telaumbanua, S. 167). Zu vermuten ist, dass die Christianisierung von Nias Island nur zustande kam durch eine geschickte Kooperation der niederländischen Administration (Etablierung von Plantagenwirtschaft, Zwangsarbeit und Ausbeutung, Militärherrschaft, Einführung des bürgerlichen Rechts) und der Missionare, hauptsächlich durch die RM, zur Zerschlagung traditioneller Riten, Vernichtung der indigenen Werke und Symbole, Alphabetisierung und die Durchsetzung des Bibelglaubens (Übersetzung der Bibel, Lesezirkel etc.). Auf dem Höhepunkt dieser „Kulturrevolution“ fand die An- und Übereignung von Kunstwerken an die Mutterhäuser, schon vor 1900 „Völkerkundemuseen“ genannt, statt; bis heute werden die Gegenstände als Schenkungen, Mitbringsel und universale Güter zum Verständnis sog. „fremder“ Kulturen betrachtet und unter angeblich didaktischen Gesichtspunkten weiterhin ausgestellt. Güter dieser Art fallen aber genauso unter Raubkunstverdacht wie die von politischer Seite angeeigneten Kulturgüter der kolonisierten Völker. Für eine Rückgabe sind die rechtlichen und politischen Voraussetzungen allerdings genau zu überprüfen. Zielort eines Transfers könnte das „Nias Heritage Museum“ in Gunungsitoli sein: Museum Pusaka Nias – Nias Heritage Museum Dieses wunderschöne Museum bietet eine Fülle an kulturellen Impressionen der Geschichte von Nias: Visit us - Museum Pusaka Nias Hier würde sicherlich die Möglichkeit bestehen, die Originale aus dem Wuppertaler Museum, die beiden Megalith-Figuren, demnächst aufzubewahren und zu zeigen. Es spricht nichts dagegen, in Wuppertal die Originale durch gekennzeichnete Kopien zu ersetzen und die Verwicklung des Wuppertals in den Kolonialismus mit deren Hilfe noch besser zu dokumentieren, noch selbstkritischer aufzuarbeiten und einem an der Kolonialgeschichte interessierten Publikum zugänglich zu machen. Denkbar wäre auch die Gründung einer Kooperation zwischen dem Wuppertaler Museum und dem Nias Heritage Museum, die Ausweitung einer wissenschaftlichen Aufarbeitung und die Vertiefung des Problemhorizonts über das, was die Kolonisten, auch aus Wuppertal, in anderen Ländern der Welt zur Auslöschung traditioneller Kulturen beigetragen haben. Christoph Irmer 1150